Ist Polyamorie erlaubt?

Dein Atem beruhigt sich langsam wieder. Tief in dir verspürst du ein angenehmes Kribblen. Das Oxytocin rauscht durch deine Blutbahnen und kitzelt deine Rezeptoren, die sich mit diesem Mann verbinden wollen. Du bist dir ganz sicher. Das ist der Mann deines Lebens. Was für ein Jammer, dass der erst jetzt aufgetaucht ist. Denn jetzt wartet zu Hause ein Anderer. Der vorher der Mann deines Lebens war. Oder es auf eine gewisse Weise auch noch immer ist. Den du auch nicht verlieren möchtest. Aber an den du jetzt nicht denken willst. Denn du bist im viel gepriesenen Hier und Jetzt und möchtest deinen Hormonrausch genießen.

Aber es ist mehr als das. Der Mann, der jetzt gerade an deiner Seite ist, aber nicht als der offizielle Mann an deiner Seite gilt, beflügelt nicht nur dein körperliches Empfinden sondern streichelt auch deine Seele. Du willst mehr als diese gelegentlichen Treffen. Du willst mit ihm zusammen sein. Ganz offiziell. Schon seit einiger Zeit drückt diese Entscheidung wie eine Last, die du ständig mit dir herumtragen musst, niemals absetzen kannst. Wenn du hier bist, scheint es sonnenklar und ganz einfach. Wenn es sich so gut anfühlt, kann es doch nicht falsch sein? 

Dann gehst du nach Hause. In dein anderes Zuhause. Denn auch diese Wohnung fühlt sich an wie ein Zuhause für dein Herz und für deine Seele. 

Im anderen Zuhause empfängt dich Vertrautheit und Wärme. Gemeinsame Vergangenheit, gemeinsame Zukunftspläne, Intellektuelle Stimulation. Schon gerät deine Entscheidung wieder ins Wanken. Das alles aufzugeben kann doch auch nicht richtig sein? Musst du überhaupt eine Entscheidung treffen? Natürlich musst du das, wenn du nicht mehr irgendwelche fadenscheinigen Ausreden erfinden willst, um diesen Mann zu treffen. Aber musst du dich wirklich zwischen den beiden Männern entscheiden?

Du bist schon seit vielen Jahren mit deinem Mann verheiratet und die tiefen Gespräche wurden manchmal mit großer Offenheit geführt. Gemeinsam seid ihr durch Höhen und Tiefen gegangen. Seine Affäre war eine Zerreißprobe für eure Ehe und auch für deine Seele. Sogar die Möglichkeit einer Offenen Beziehung habt ihr in Betracht gezogen. Du konntest dir ein Leben ohne diesen Mann schwer vorstellen, wolltest ihn und den Traum von der gemeinsamen Zukunft nicht loslassen. Er hat dir versichert, dass seine Außenbeziehung ausschließlich sexueller Natur sei. Du bist seine große Liebe und daran würde sich auch nichts ändern, wenn er ab und zu seine körperlichen Bedürfnisse außer Haus auslebte. Andere Paare gehen schließlich in Swinger Clubs. Eine fein säuberliche Trennung von Herz und Körper erschien dir zumindest theoretisch möglich.  Auch wenn es in der Praxis manchmal schwer zu ertragen war. 

Und irgendwann war es dann vorbei. Ein paar Narben sind zurück geblieben, aber welches Herz bleibt schon davor verschont im Laufe eines Lebens? Es nicht zu verschenken, wäre vielleicht eine Möglichkeit,  um es vor Verletzungen zu bewahren, aber das führte zu einer anderen Art von Kummer. Also hast du deine Wunden gepflegt und von deinem Mann pflegen lassen, bis sie zu Narben verheilt sind, die im weiteren Beziehungsleben kaum stören. Nur wenn man sie ganz manchmal an einer ganz bestimmten Stelle trifft. 

Und jetzt das. Du willst nicht länger lügen. Aber mit einer Offenen Beziehung wäre das Problem nicht gelöst. Wenn behauptest, deine Außenbeziehung wäre nur sexueller Natur, würdest du weiterhin lügen. Es wäre eine andere Art von Lügen als die Erfindung von abendlichen Meetings und mehrtägigen Dienstreisen. Aber du würdest deinen Geliebten und dich selbst verraten mit dieser Behauptung. Dein Mann hat das bereits erlebt, also kannst du vielleicht auf Verständnis hoffen. Aber du möchtest gerne ein Leben in Wahrheit führen. Und die Wahrheit ist: du liebst zwei Männer. Niemals hättest du das für möglich gehalten. Du warst überzeugt vom Grundsatz „Wenn in der Beziehung alles in Ordnung ist, kann man sich nicht fremdverlieben.“ Das ist die Gefahr von festen Überzeugungen. Das Leben belehrt einen manchmal eines Besseren. 

Du hast da einmal diesen Artikel in einer Zeitschrift gelesen. Menschen führen eine Liebesbeziehung zu mehr als einem Menschen. Polyamorie. Aber das war noch in deiner alten Vorstellungswelt. Du dachtest, das sei nur ein anderer Ausdruck für „offene Beziehung“. Einen Menschen hat man für die seelischen und einen für die körperlichen Bedürfnisse und beide wissen voneinander und alle respektieren dieses Arrangement. Aber zwei Menschen gleichzeitig zu lieben? Welcher ist dann der Haupt-Partner und welcher der Neben-Partner? Kann das wirklich funktionieren? Wie fühlt sich ein Mensch, wenn er weiß, dass er die Liebe seines Partners teilen muss? Kann es eine Liebe ohne Eifersucht überhaupt geben? Es heißt doch, ein gewisses Maß ein Eifersucht sei sogar gesund für die Beziehung. Wo soll der Platz für diese „gesunde Eifersucht“ in dieser Beziehungsform sein? Oder ist die Monogamie nur gesellschaftlich antrainiert und wenn wir diese Fesseln sprengen, können wir ein Leben in der Fülle der Liebe führen?

Vielleicht ist es in einer queeren Beziehung einfacher? Wenn ein Mann nicht gegen einen anderen Mann „verloren“ hat, sondern gegen eine Frau, vielleicht kommt er damit denn besser damit zurecht?

Und wie soll das in der Praxis aussehen? Wohnen alle Mitglieder dieser Liebesgemeinschaft unter einem Dach? Das hätte zumindest schon mal den Vorteil, dass die häuslichen Pflichten verteilt werden können. Verbringt man die Nach einmal beim einen und einmal beim anderen? Dafür bräuchte man sehr schalldichte Wände, denn man möchte doch kaum akustisch dem Liebesspiel seines Partners mit dem Zweit-Partner beiwohnen. Oder bedeutet Polyamorie auch gemeinsames Liebesspiel? 

Ein wesentlicher Knackpunkt ist wohl auch die Bewertung durch die Gesellschaft. Wie wird es von Nachbarn, Kollegen, sogar dem Freundeskreis aufgenommen? „Was die Leute sagen“ ist uns nicht wirklich egal, auch wenn die Bedeutung des Individuums im Gegensatz zur Gemeinschaft in unserem Kulturkreis immer mehr zunimmt, tragen die meisten von uns tief in uns wohl doch den Wunsch nach Zugehörigkeit. 

Trotz gesellschaftlicher Ächtung ist es nicht verboten, zwei Menschen gleichzeitig zu lieben. Man kann halt nur mit einem davon verheiratet sein. Der bekommt dann Auskunft im Krankenhaus, darf die Post abholen und erbt das Vermögen. Aber niemand kann dir verbieten, zwei Männer zu lieben. 

Leider kennst du niemanden, der diese Beziehungsform lebt. Nicht einmal jemanden, der jemanden kennt. Das ist auch  nicht weiter verwunderlich, denn die offizielle Zahl der öffentlich lebenden polyamoren Menschen in Deutschland liegt bei unter 0,1 %. Wie soll man da jemanden finden, um sich auszutauschen? Aber vielleicht lieben ja auch Menschen polyamor, die es nicht offen zugeben würden? 

In meinem Roman „Trennung al dente“ gerät Julia auch an einen Punkt, an dem sie sich entscheiden muss und sie fragt sich, ob Polyamorie vielleicht ihre Probleme lösen könnte.