Was ist ein Memoir?

Gedanken zu einem unterschätzten Genre (1)

Was habe ich mit Tara Westover und Elisabeth Gilbert gemeinsam? Ich habe ein Memoir geschrieben. Nun ist es natürlich vermessen, mich mit den Bestsellerautorinnen vergleichen zu wollen. Es gibt aber einen weiteren Unterschied zwischen mir und diesen Autorinnen. Ich lebe in Europa. Hier wird dieses Genre etwas unbeholfen versteckt unter „Romanhafte Biografie“, „Biografischer Roman“ oder auch „Autofiktion“, wenn der Rahmen des Erlebten verändert wird, sei es um Persönlichkeitsrechte zu wahren oder eine Spannungskurve aufzubauen.  

In der amerikanischen Heimat der beiden Schriftstellerinnen hingegen erfreut sich das Memoir großer Beliebtheit. 

Was ist überhaupt ein Memoir?

Ich befrage meinen neuen Besserwisser ChatGPT und bekomme folgende Antwort:

Ein Memoir ist eine literarische Gattung, die eine autobiografische Erzählung darstellt, sich jedoch auf spezifische Ereignisse, Themen oder Zeitabschnitte im Leben des Autors konzentriert, anstatt dessen gesamte Lebensgeschichte zu erzählen.

Im Gegensatz zur klassischen Autobiografie, die meist chronologisch und umfassend das Leben einer Person schildert, ist ein Memoir oft persönlicher, reflektierender und thematisch fokussiert. Es kann sich beispielsweise um eine prägende Erfahrung, eine besondere Beziehung oder eine bestimmte Lebensphase drehen.

Typische Merkmale eines Memoirs:
• Subjektive Perspektive: Der Autor erzählt aus seiner eigenen Sicht und reflektiert über Erfahrungen.
• Fokus auf Emotionen und persönliche Erkenntnisse: Oft geht es weniger um Fakten als um individuelle Wahrnehmungen und innere Entwicklungen.
• Erzählende, literarische Form: Viele Memoirs sind stilistisch wie Romane geschrieben und nutzen literarische Mittel wie Dialoge und szenische Darstellungen.

Mit dieser Beschreibung finde ich mein Memoir „Trennung al dente – wie ich mich an etwas klammerte, das ich ohnehin nie hatte“ durchaus passend getroffen.

Anderen Definitionen zufolge werden in einem Memoir außergewöhnliche Ereignisse geschildert. Dem würde ich weder in meinem Fall, noch in dem von Elisabeth Gilbert zustimmen. Millionen von Frauen erleiden Trennungen, entdecken und haben Affären, durchleben Scheidungen. In „Eat, Pray, Love“ liegt das Hauptaugenmerk zwar in der anschließenden Bewältigung des traumatischen Erlebnisses auf den Reisen durch Italien, Indien und Bali. Aber auch diese Reisen sind nicht unbedingt außergewöhnlich. Erst die Art und Weise, wie darüber geschrieben wird und vor allem der sehr persönliche Ausdruck machen das Buch zu etwas Außergewöhnlichem, sogar einzigartigem, denn die Autor:in, die das schreibt, ist schließlich die einzige, die das auf genau diese Weise empfunden hat und ausdrückt.

Natürlich gibt es auch jede Menge Beispiele von Memoirs mit außergewöhnlichen Erlebnissen, aber das ist für mich nicht der wichtigste Grund für den Griff zu so einem Buch.

Wo findet man ein Memoir bei den Verlagen und auf Amazon?

Es geht die Mär, dass es für Autobiografien weitgehend unbekannter Menschen keinen Markt gebe. Daher werden sie in den Verlagsprogrammen auch versteckt, entweder als „erzählendes Sachbuch“, „Erfahrungsbuch“ oder „Schicksalsbericht“. Ein Exposé eines solchen Werkes an einen Verlag zu senden, könne man sich sparen. Genau aus diesem Grund wird mein Memoir „Trennung al dente – wie ich mich an etwas klammerte, das ich ohnehin nie hatte“ im Selbstverlag erscheinen.

Ob es helfen würde, eine plausiblere Übersetzung des etwas sperrigen Begriffes „Memoir“ zu finden? Schließlich fehlen nur zwei kleine Buchstaben zu den „Memoiren“, die meist ein ganzes Leben umfassen und chronologisch geschrieben sind, oft auch in einem formelleren Stil und daher ein ganz anderes Publikum anziehen, als das emotionalere Memoir.

Die Unsicherheit mit diesem Genre zeigt sich auch in den Buchcovern.

Beim Bestseller „Educated“ von Tara Westover springt einem beim Vergleich von englischem und deutschem Cover bereits der Unterschied ins Auge. 

Der Zusatz „A MEMOIR“ vom englischen Cover hat es nicht auf die deutsche Übersetzung „Befreit“ geschafft. 

Auf dem Cover von „Die Asche meiner Mutter“ von Frank McCourt liest man immerhin den Versuch, das „A MEMOIR“ vom englischen Original „Angela`s ashes“ mit „Irische Erinnerungen“ zu übersetzen.

Wie machen das die deutschsprachigen Memoir-Autoren? Im November 2024 erschien „Man kann auch in die Höhe fallen“ von Joachim Meyerhoff. Wie alle fünf Bände davor habe ich auch diesen verschlungen. Auf dem Cover steht einfach nur „Roman“, ohne Hinweis auf autobiografische Inhalte.

 Interessant finde ich bei dieser Reihe auch die Einsortierung in den Amazon-Kategorien:

Die ersten beiden Teile waren noch unter „Mehr Kleintiere“ und „Romanhafte Biografien“ zu finden, die Bände drei und vier nur mehr unter „Romanhafte Biografien“ und „Biografische Romane“, der letzte unter „Konflikte“ und „Literarische Belletristik“.

Tatsächlich habe ich auch ein Memoir einer deutschsprachigen Autorin gefunden, die das Genre prominent auf dem Cover platziert:

Unter dem Titel „Schafft euch Schreibräume! Weibliches Schreiben auf den Spuren Virginia Woolfs“ von Judith Wolfsberger steht tatsächlich „Ein Memoir“.

Wie werde ich das Problem lösen? Bald erscheint ja mein Buch „Trennung al dente – wie ich mich an etwas klammerte, das ich ohnehin nie hatte“. Was wird außer Titel und Autorin noch auf dem Cover stehen? Roman? Memoir? Oder einfach gar nichts? Und in welche Amazon-Kategorien wird es ein sortiert? Die Leserin in spe darf gespannt sein.

Warum sollte man ein Memoir lesen?

Kennt ihr das auch? Ich befinde mich in einem Umbruch. Die Situation ist neu für mich, wie gehe ich damit um? Wen kann ich fragen, mit wem mich austauschen, wer kann mir vielleicht helfen, wer hat ähnliches erlebt und mag seine Erfahrungen mit mir teilen? Niemand in meinem Bekanntenkreis ist gerade in dieser Lebenslage. Meinen Freundinnen gehe ich allmählich damit auf die Nerven, dass ich immer wieder die gleichen Überlegungen vor ihnen wiederkäue (auch wenn sie es niemals zugeben würden).

Foren waren für mich früher eine beliebte Anlaufstelle in solchen Lebenslagen. Mir unbekannte Menschen schildern in groben Zügen ihre Erfahrungen und bekommen Kommentare von ebenso unbekannten Menschen. Ich postete selten etwas, verschlang aber gierig die Berichte der anderen. Um wieviel spannender ist es dann erst, die Erfahrungen einer Leidensgenossin in der ganzen Bandbreite zu lesen, mit Details, aus denen ich auf die Charaktere schließen kann und einer Handlung, mit der ich die Entwicklung der Personen miterleben kann? All das kann ich in einem Memoir lesen.

Das ist für mich aber nicht der einzige Grund für diese Art von Lektüre. Als ich „Eat, Pray, Love“ zum ersten Mal gelesen habe, wäre ich selbst niemals auf den Gedanken gekommen, dass die Erfahrung einer Scheidung auch in mein Leben treten würde. Persönliche Schilderungen haben immer das Potenzial, uns in ihren Bann zu ziehen. Wir leiden, lieben und lachen mit der Protagonistin natürlich auch in fiktiven Werken, aber vom Hinweis „nach einer wahren Geschichte“ verspreche ich mir oft noch eine zusätzliche Prise Identifikation mit der Autorin.