Die beiden Seelen in meiner Brust driften so weit auseinander, ich fühle mich zum Zerreissen gespannt. Was tun? Fahren oder nicht fahren? Warum habe ich mich überhaupt angemeldet damals? Ich habe doch gar nichts Bedeutsames zu sagen über mein Leben? Und hier kann ich in dieser Zeit nun wirklich Bedeutsames leisten. Ich kann meine Ehe retten.
Gerade hat mein Mann sich bereit erklärt, die Affäre zu beenden und bei der Familie zu bleiben. Wenn ich jetzt nach Wien fahre, wird er mir das vielleicht wieder als Eheverfehlung ankreiden?
Aber was noch viel schlimmer ist: Wenn ich jetzt wegfahre, hat DIE ANDERE freie Bahn. Vielleicht trifft er sie dann doch wieder? Andererseits. Kann ich das verhindern, wenn ich hier bleibe? Ich kann ihn doch nicht auf Schritt und Tritt bewachen? Wenn ich das könnte, wäre das doch gar nicht erst passiert. Es ist allerdings auch passiert, weil ich mich in einer falschen Sicherheit wähnte. Es gibt keine Sicherheit, schon gar nicht in Beziehungen.
Es hatte meiner Seele solchen Auftrieb gegeben, als ich das Schreiben entdeckt hatte. Besonders nach dem Dämpfer in meinem Job. Angefangen habe ich mit ein paar kleinen Übungen aus dem Buch von Julia Cameron. Plötzlich hat es mich gepackt und ich wusste: ich muss schreiben. Abends, wenn die Kinder im Bett waren, saß ich im Kerzenschein auf der Terrasse und versank in mein Tun. Im Nachhinein gesehen hätte ich lieber mit meinem Mann im Bett versinken sollen. Hinterher ist man immer klüger.
Andererseits. Warum muss ich auf diesen Tanz meiner Seele verzichten? Warum kann ich nicht alles haben? Ich leiste in meinem Job, kümmere mich liebevoll um meine Kinder, und wenn dann nur mehr Zeit für eines bleibt, dann für die Rolle als Ehefrau? Ich habe sogar schon den Sport herunter gefahren für das Schreiben, mache nur mehr kleine Spaziergänge, die der Inspiration dienen. Und trotzdem habe ich meinen Mann offensichtlich vernachlässigt. Den Haushalt auch. Sagt er jedenfalls. Also hier bleiben und alle Versäumnisse nachholen?
„Ein eigenes Zimmer“, wie Virginia Woolf es fordert, habe ich sogar. Es dient allerdings meiner Erwerbsarbeit im Homeoffice, wenn die Kinder krank sind oder sonstige Notfälle anstehen. Durch die Erwerbsarbeit habe ich sogar ein eigenes Einkommen, wie Virginia Woolf es ebenfalls fordert. Theoretisch wäre ich dadurch frei, unabhängig von einem Mann. Aber bin ich das wirklich?
Nein, das bin ich nicht. Weder finanziell, weil mein Teilzeitgehalt nicht die Familie ernähren könnte. Dazu müsste auch meine Care-Arbeit für die Kinder bezahlt werden. Und schon gar nicht emotional. Sonst würde ich jetzt nicht mit dem Gedanken spielen, mein verlängertes Schreib-Wochenende in Wien abzusagen, damit mein Mann sich von seiner Geliebten fern hält. Was ich genau betrachtet auch mit einer Anwesenheit nicht verhindern kann.
Also hole ich mir jetzt ein kleines Stück meiner Freiheit zurück und fahre nach Wien. Ich wohne bei einer alten Freundin und das ist schon ein großer Teil des Balsams, den dieses Wochenende auf meine Seele streichen wird. Endlich habe ich Gelegenheit mein Herz auszuschütten.
Und dann, endlich, beginnt der Workshop. Ich bin ein wenig aufgeregt. Die anderen Themen aus meinem Leben, die ich überlegt hatte, als Schreibstoff mitzubringen, erscheinen mir jetzt im Lichte meiner neuen Erlebnisse fad und schal. Aber über das Unaussprechliche zu schreiben, das vor einer Woche passiert ist? Gut, diese Hürde habe ich schon mit den Einträgen in mein Tagebuch genommen. Aber diese handschriftlichen Einträge kann ich danach nicht einmal selbst lesen. Hier wird ja nicht nur geschrieben, sondern auch vorgelesen, geteilt, kommentiert. Werde ich dazu in der Lage sein, ohne in Tränen auszubrechen? Ich werde das dann einfach ganz spontan entscheiden, wenn ich die Gruppe kennen gelernt habe.
Wir sitzen um einen großen Tisch versammelt und stellen uns vor. Sofort fühle ich: Diesen empathischen Schreibenden kann ich meine Seele öffnen. Hier fühle ich mich aufgehoben. Hier bin ich vielleicht auch nicht allein mit meinem Leid. Auch andere Menschen erleben Unerfreuliches. Und das Leben bietet sicher noch Schlimmeres als eine aufgeflogene Affäre. Ich werde also darüber schreiben. Ana führt den Workshop auf so einfühlsame Weise, dass es mir geradezu leicht fällt, die Anfangsszene zu schreiben. Dass ich dadurch noch einmal erlebe, wie ich meinen Mann mit der Tatsache konfrontiere, macht es nicht schlimmer, im Gegenteil. Wut und Schmerz fließen aus meinem Kugelschreiber auf das Papier und sind dann dort gebannt, zumindest für eine kurze Zeit.
Für die Feedbackrunde lese ich mit zitternder Stimme meinen Text vor. Es werden die Bilder besprochen, die ich verwendet habe, diskutiert, ob und welche Gefühle durch bestimmte Wörter ausgelöst werden. Und mein Erstaunen setzt sich fort. Durch dieses Besprechen meines Textes auf der formalen Ebene scheint sich auch das Problem auf eine formale Ebene zu bewegen. Es ist jetzt nicht mehr der größte Schmerz meines Lebens, es ist Stoff für ein Buch. Zumindest in diesem Augenblick in dieser Gruppe. Und ich bin für jeden Augenblick dankbar, in dem der Schmerz mich so weit verlässt, dass er Raum lässt für Anderes, Schönes in meinem Leben.
Ich frage Ana nach dem richtigen Zeitpunkt für das Aufschreiben einer schmerzhaften Geschichte.
„Wenn es noch ganz frisch ist, hat es den Vorteil, dass man es noch mit sehr viel Emotion beschreiben kann kann. Der Nachteil: man hat vielleicht nicht immer ausreichend Distanz zum Geschehen.“
Ich lasse die Worte auf mich wirken. Und schreibe weiter mein Tagebuch. Letztendlich entscheidet das Leben für mich, wann ich das Buch schreibe. Als ich mich auf das zweite Workshop-Wochenende vorbereiten möchte, bin ich plötzlich Alleinerzieherin. Nicht eine Alleinerzieherin, die diese Rolle mal für ein Wochenende abstreifen und nach Wien fahren könnte, sondern ausschließlich. Ich bekomme Unterlagen und Aufgaben vom zweiten Workshop-Teil per mail und drucke alles aus.
In dieser Mappe liegt es dann für die nächsten zwölf Jahre. Und als der richtige Zeitpunkt gekommen ist, packe ich es wieder aus und beginne zu schreiben.
Daraus entsteht mein Buch Trennung al dente, das am 1. Juli 2025 erscheint.
Anas Memoir-Workshop hat sich mittlerweile zu einem Lehrgang entwickelt.