Ein Kind gehört zur Mutter

Mit dem Kleidersack über der Schulter betrete ich das Headquarter in Wien. Endlich ist wieder ein Präsenzmeeting angesagt, für das ich zwei Tage bleiben werde. Morgen ausschlafen, am Donaukanal entlang joggen, frühstücken, ohne Kakao über die Bluse geleert zu bekommen und dann tiefenentspannt und voller Tatendrang ins Büro. Ich liebe diese Wellness-Auszeiten.

Bei der Aussicht auf so viele positive Vibes gibt es natürlich auch Neider. Einer kommt gerade um die Ecke, eine Kollegin aus dem dritten Stock.

„Gell, die Kleine weint schon, wenn Sie wegfahren?“

„Sie hat ja auch einen Papa.“

„Aber eine Mutter kann schließlich nicht ersetzt werden.“ 

Dem stimme ich durchaus zu. Für den Vorgang von Schwangerschaft und Geburt. Vielleicht noch für den des Stillens, aber es soll schon Kinder gegeben haben, die auch als Flaschenkinder prächtig gediehen sind.

Meine einjährige Tochter genießt die Tage mit ihrem Papa gerade genauso wie seine selbst zubereiteten Kinder-Mahlzeiten. Ich wüsste nicht, was ich da als Mutter besser machen könnte. Das Öffnen von Hipp-Gläsern zählt sicher nicht dazu. Diese Meinung behalte ich aber für mich. Wir schreiben das Jahr 2001. Nicht einmal 2% der Männer gehen in Karenz. Mein Mann als Vollzeit-Papa ist eine nahezu unbekannte Spezies.

Ein Kind später bin ich immer noch berufstätig und mittlerweile werden wir von einem Au-Pair-Mädchen unterstützt. Neiderinnen gibt es immer noch. Da ich mittlerweile Teilzeit arbeite, habe ich jetzt Zeit für Spielgruppenmamatreffen. Mir bleibt gerade die Breze im Hals stecken, als ich höre:

„Ich bewundere dich ja sooo sehr, dass du es schaffst, deine Kinder einem Au-Pair zu überlassen. Gerade hat doch eine ein Baby zu Tode geschüttelt. Ich würde das niemals schaffen.“

Subtext: „Ich hätte auch gerne so viel Freiheiten wie du.“

Da ich den Mund voll habe, bringe ich nur ein „hmmpff“ heraus, aber recht viel mehr hätte ich auch mit besseren Manieren nicht dazu beitragen können.

„Es ist nicht meine Aufgabe, die Erwartungen der Gesellschaft an mich zu erfüllen“, denke ich in diesem Kontext lieber leise. Wir schreiben das Jahr 2001 in einem oberbayerischen Dorf. Rabenmutter ist ein ganz normales Wort.

Eine Scheidung später arbeite ich immer noch Teilzeit. Ein Großteil meines Lebens ist mir um die Ohren geflogen. Was ich nie für möglich gehalten hätte, ist passiert. Was in meiner Überzeugung „für immer“ war, ist vorbei. Ein Schmerz, der für mich unvorstellbar war, hat mich gebeutelt. Und ich war versucht, Dinge zu tun, die ich mir niemals zugetraut hätte. Aber mit meiner Arbeit habe ich habe eine Konstante in meinem Leben, die mir Halt gibt. Und die finanziellen Möglichkeiten für eine faire Scheidung. Obwohl Tante Jolesch ja sagt, „Gott bewahre uns vor allem, was noch ein Glück ist.“ Aber ich habe mir diese Art von Glück schließlich nicht ausgesucht.

Was ich mir auch nicht ausgesucht habe, ist die Regelung des Umgangsrechts in der Scheidungsfolgenvereinbarung. Es ist die einzig logische Konsequenz unserer Familien-Konstellation. Erst beim Anwalt habe ich erfahren, dass es dafür einen Namen gibt: „Nestmodell“ klingt doch ganz angenehm, finde ich. Unsere Teenager sind mit schulischen und außerschulischen Aktivitäten gut ausgelastet. Ich wollte ihnen kein Pendlerleben aufzwingen. Mit den Öffis wären sie drei Stunden zum Vater unterwegs gewesen und die Trainingspläne werden auch nicht auf Scheidungskinder zugeschneidert. Wenn schon jemand pendeln muss, dann sollten das die Eltern sein, die haben den Schlamassel schließlich verursacht. Jedes zweite Wochenende und jede Woche von Mittwoch auf Donnerstag habe ich jetzt frei. Und auch das ist wieder ein Glück, das ich mir nicht aussuchen würde. Zuerst klappere ich an den kinderlosen Wochenenden Freunde ab, die ich länger nicht besucht habe. Dann miete ich ab und zu ein Hotelzimmer. Ein mehr als seltsames Gefühl in der Heimatstadt, das ich auch in meinem Debütroman „Trennung al dente“ beschreibe.

Und dann bekomme ich durch eine glückliche Fügung eine winzige Wohnung in weniger als mittelprächtiger Gegend, aber für mich bedeuten diese 23 Quadratmeter die große Freiheit. Die Freiheit war mehr als nur die Tatsache, mich ein paar Tage um keine Kinderbelange zu kümmern. Es war eine innere Freiheit, ein wieder-entdecken meines Selbst in einer neutralen Umgebung, die ich zu meiner ganz eigenen gestalten konnte. Und ich stellte mir ein wildes Leben vor in meiner Lasterhöhle, mehr als es im Familienaus auch ohne Anwesenheit der Kinder möglich gewesen wäre.  Im Großen und ganzen ist es diesbezüglich bei den Vorstellungen geblieben, aber wie sagt man so schön – Vorfreude ist die schönste Freude. Manchmal reagierten Außenstehende etwas sonderbar, wenn ich auf die Frage „wo wohnst du denn“ etwas auszuschweifen begann. Aber daran gewöhnte ich mich bald. 

In Foren fragen Interessierte gelegentlich nach Erfahrungsberichten, da sie niemanden persönlich kennen mit diesem Modell, daher teile ich hier meine ganz persönlichen Erfahrungen mit den Nachteilen des Nestmodells:

Der erste Nachteil ist eigentlich eine Voraussetzung: die Ex-Partner brauchen ein gutes Einvernehmen und sollten sich in der Erziehung weitgehend einig sein. Das ist für mich eine Grundbedingung, die bei Trennung sowieso immer zu gelten hat. In den schlimmsten Zeiten, wenn ich versucht war, dieses Credo außer acht zu lassen, habe ich mich zur Ordnung gerufen mit dem Mantra „Die Liebe zu meinen Kindern ist größer als der Hass auf meinen Ex.“ 

Man muss teilweise weiterhin einen gemeinsamen Haushalt führen. Das waren auch die einzigen Bedenken meines Anwaltes, dass das Haus in einem unordentlichen Zustand hinterlassen werden könnte, was dem Einvernehmen wiederum schaden könne. Diesbezüglich konnte ich ihn beruhigen. Die Sauberkeitsstandards meines Ex-Mannes lagen über den meinen, er hat das Haus meist ordentlicher hinterlassen als vorgefunden.

Die Kosten sind höher. Aus diesem Grund ist das Modell nicht immer möglich, manchmal bei bestimmten Konstellationen aber sogar günstiger.

Es könnte Schwierigkeiten mit neuen Partnern geben. Das war in der Tat bei uns einer der Gründe, warum das Modell sich langsam aufgelöst hat. Gleichzeitig sind aber auch die Kinder einem starren Modell entwachsen und konnten selbst entscheiden, wann und wie sie ihren Vater besuchen wollen.

Gleichzeitig hat noch eine Salzburger Besonderheit die Freude an meinen „wild days“ etwas getrübt: ich durfte in der Stadtwohnung keinen Nebenwohnsitz begründen. So lebte ich meinen „U-Boot-Status“ an diesen Tagen immer unentspannter und es fügte sich das Auslaufen des Modells auch in meine persönlichen Bedürfnisse.